WENN DER WIND WEHT
Frank Laukötter


»Wie sagt man auf Französisch: ›Es ist Liebe‹?«, fragt Angela Merkel, woraufhin François Hollande antwortet «Cʼest lʼamour». Zwei Doppelgänger mimen die beiden: als Liebespaar, bei Champagner vor einem Kamin zu Boden gleitend; und als Machthaber vor einem Spiegel stehend, sie eine Krone tragend und er einen Napoleon-Hut. So schilderten es am 14. November 2013 mit Esprit, Humor und Sentiment das Zeit-Magazin und M – Le magazine du Monde anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der deutsch-französischen Beziehungen.


Was für eine Fügung, dass zwei Nationen, die sich 1870/71, 1914–18 und 1939–45 bekriegten, sich 1963 einigten: Nicht nur die Staatschef:innen und Außenminister:innen sollten sich turnusmäßig treffen, sondern auch Bürger:innen und deren Kinder und Kindeskinder. Wir lernen uns kennen, wir tauschen uns aus, und wir versprechen uns: Nie wieder Krieg! 


Diese Parole in den Ohren lernten sich 1995 in Bremen-Vegesack die Deutsche Annemarie Strümpfler und der Franzose Lucien Hirth kennen. Er war als einer von etwa 10.000 Gefängnis- und KZ-Häftlingen, Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitenden am Bau des dortigen Bunkers »Valentin« beteiligt. Sie war in den 1990-er Jahren Lehrerin in Bremen-Nord. Annemarie Strümpfler hat Lucien Hirth interviewt. Er berichtete ihr, wie windig und kalt es gewesen sei, als er auf dem Dach des Bunkers gearbeitet habe. Dass er das Wasser getrunken habe, das zum Anmischen des Betons da gewesen sei. Und dass das nie wieder kommen dürfe. So wie Annemarie Strümpfler Lucien Hirth interviewte, versuchten zeitgleich Schüler:innen ihrer Video-AG mit älteren Anwohner:innen des Bunkerumfeldes ins Gespräch zu kommen, um von ihnen zu erfahren, wie sie in unmittelbarer Nachbarschaft den Bau des Bunkers in den Jahren 1943 bis 1945 erlebten. Eine einzige Frau war bereit, Auskunft zu geben.


Lucien Hirth hat darauf hingewiesen, wie windig und wie kalt es gewesen sei, als er und Tausende Andere an der Weser das vermeintlich »8. Weltwunder« (Weser-Kurier, 13. Oktober 1955) in Form zu bringen gezwungen worden sind. Auf diese Hinweise beziehen sich Annemarie Strümpfler zusammen mit Mattia Bonafini und Jutta Kelm in ihrer Klanginstallation Erinnern durch Klang am und im Bunker. An der südwestlichen Außenkante des Gebäudes ist eine große, drei Meter hohe Äols- oder Windharfe angebracht. Jutta Kelm hat sie gebaut. Im Inneren des Baus, gegenüber dem Einblick in den Ruinenteil, ist ein Lautsprechersystem installiert und an einen Computer angeschlossen. Die Audiofiles hat Mattia Bonafini kreiert. Annemarie Strümpfler hatte die Idee, entwickelte die Konzepte für die beiden Klanginstallationen und die Kooperation des Trios. Sie besuchte Bunker des sogenannten »Atlantikwalls« und machte unter anderem in Brest, Lorient und Saint Nazaire Bild- und Tonaufnahmen. Sie baute eine erste eigene handliche Windharfe für Tests am Bremer Bunker.  


Die Töne der Äolsharfe im Außenbereich und die Klänge vom Computer im Innenbereich sind in mehrerlei Hinsichten unterschiedlich. Jene Geräusche sind live und natürlich erzeugt. Diese künstlich, Samplings von Field Recordings und anderen akustischen Files. 


Die Harfe spielt das, was der Wind ihr zu spielen gibt. Ihr Spiel ist kein von Menschenhand erdachtes und gemachtes Spiel. Wenn der Wind weht, sodass die Harfe beispielsweise eine Wehklage anzustimmen scheint, dann deutet das Bewusstsein der Hörenden akustische Signale als eine Wehklage. Eine solche »Stimme« wirkt gespenstisch. Wie eine Sprache ohne Sprecher:innen. Wie ein Gedächtnis ohne diejenigen, die gedenken. Oder wie ein Denkort ohne Besucher:innen und Denker:innen. 


Der Computer speist vier Lautsprecher und zwei Kontaktschallwandler mit sechs Sounddateien. Auf jeder Box läuft eine andere Tonspur. Die Spuren sind synchronisiert, ein Durchgang dauert eine Stunde. Durchgang für Durchgang variiert dennoch das Gehörte dadurch, dass in einzelne Intervalle der Gesamtsequenz akustische Signale per Zufallsgenerator eingespielt werden. Das zugrunde liegende Klangmaterial stammt größtenteils von Annemarie Strümpflers kleiner Äolsharfe und anderen Geräuschen aus den Außen- und Innenbereichen der Bunker in Brest, Lorient, Saint-Nazaire und Bremen sowie von Tönen entlang des Gedenkpfads des ehemaligen Lagergeländes am Bunker »Valentin«. Manche Geräusche bleiben Geräusche, sprich: Sie führen nicht zu malerischen Assoziationen. Andere Töne hingegen lassen ihre Herkünfte ahnen, sprich: Es ist, wie wenn der Wind weht, um ein Beispiel zu nennen. Wie wenn ein Baum knarzt, der im Winter anders knarzt als im Sommer, in dem auch die Blätter rascheln. Wie wenn Sand rieselt oder Stahl auf Stahl trifft. Es echot, wenn ein verklungener, per Record aufgezeichneter und per Play wiedergegebener fallender Tropfen sich in Erinnerung bringt und kurz vorher oder nachher ein gegenwärtiger Tropfen fällt. Wieder und wieder hämmert es, hämmert und hämmert. Es echot für diejenigen, die wissen, dass Lucien Hirth auf dem Dach des Bunkers mit dem «marteau pneumatique» arbeitete, dem »Presslufthammer«.


»There is no rewind button or life«, »Es gibt keine Rückspultaste fürs Leben«, meinte der Medienkünstler Nam June Paik. Lucien Hirth, der mit seinen Händen half, den Bunker zu bauen, und mit seinen Augen sah, wie er wuchs und wuchs, starb am 5. Oktober 2008. Nie wieder wird er sagen: Dass das nie wieder kommt. Nie wieder wird er rufen: Nie wieder Krieg! Wer zeugt jetzt, im Jahr 2023, für den Zeugen? Wind, der weht, Tropfen, die zerspringen, und wir, die wir unser Wissen weitergeben, wie zerbrechlich Frieden ist, und wie man auf Französisch sagt »Es ist Frieden, aber er ist zerbrechlich«, «Cʼest la paix, mais elle est fragile».

WHEN THE WIND BLOWS
Frank Laukötter


‘How do you say  “It is love” in French?’, asks Angela Merkel, to which François Hollande replies, ‘Cʼest lʼamour’. There are two lookalikes impersonating the pair: as two champagne-drinking lovers, sinking to the floor in front of a fireplace; and as rulers standing in front of a mirror, she wearing a crown and he a Napoleon-style hat. Such were the witty, humorous and sentimental images chosen by Zeit-Magazin and M – Le magazine du Monde to mark the 50th anniversary of Franco-German relations on 14 November 2013.

How fortunate that two nations which fought each other in 1870/71, 1914-18 and 1939-45 reached mutual agreement in 1963: not only should the heads of state and foreign ministers hold regular meetings, but also the citizens and their children and grandchildren. We get to know one another, have conversations and promise each other: ‘Never again war!’ 


With this slogan resounding in their ears, the German Annemarie Strümpfler and the Frenchman Lucien Hirth met in Bremen-Vegesack in 1995. He had been one of around 10,000 prison and concentration camp inmates, prisoners of war and forced labourers transported there by the Nazis to build the ‘Valentin’ bunker, and she, in the 1990s, was a teacher in northern Bremen. Annemarie Strümpfler interviewed Lucien Hirth. He told her how cold and windy it had been when he worked on the bunker’s roof. How he drank the water that was meant for mixing the concrete. And that it must never happen again. At the same time as Annemarie Strümpfler interviewed Lucien Hirth, the pupils from her video project group were trying to strike up conversations with older residents in the environs of the bunker, hoping to find out what they recalled about the construction of the bunker right on their doorstep between 1943 and 1945. Only one woman was willing to answer their questions.


Lucien Hirth had commented on how windy and cold it was when he and thousands of others were being forced to build the so-called ‘eighth wonder of the world’ (Weser-Kurier, 13 October 1955) on the bank of the river Weser. These particular comments inspired Annemarie Strümpfler, together with Mattia Bonafini and Jutta Kelm, to create the sound installation Remembering through Sound in and around the bunker. Mounted on the south-western outer edge of the building is a large aeolian or wind harp, three metres high. It was made by Jutta Kelm. In the interior of the structure opposite the viewing point into the ruined section, a loudspeaker system is installed and connected to a computer. The audio files were created by Mattia Bonafini. Annemarie Strümpfler had the idea and developed the concepts for the two sound installations and for the trio’s cooperation. She visited bunkers along the former ‘Atlantic Wall’, took photographs and made audio recordings in various locations including Brest, Lorient and Saint Nazaire. And she built her own first portable wind harp to carry out tests around the Bremen bunker.  


The tones of the aeolian harp outside and the sounds from the computer inside differ in several respects. The former are live and are produced naturally; the latter are created artificially by sampling from field recordings and other acoustic files. 


The harp plays what the wind gives it to play; what it plays has not been influenced by human mind and hand. When the wind blows and makes the harp seem to intone a lament, for example, then the listeners’ consciousness is interpreting the acoustic signals as a lament. Such a ‘voice’ has an eerie effect. Like a language without any speakers. Like an act of remembrance without any mourners. Or like a memorial site without any thoughtful visitors. 


The computer feeds four speakers and two contact transducers with six sound files. A different audio track runs on each speaker. The tracks are synchronised and one cycle lasts an hour. What is heard from cycle to cycle nevertheless varies due to acoustic signals interspersed by a random generator at particular intervals in the full sequence. The underlying audio material originates largely from Annemarie Strümpfler’s small aeolian harp and other noises from in and around the bunkers in Brest, Lorient, Saint-Nazaire and Bremen, and from sounds from along the ‘path of remembrance’ in the grounds of the former camp beside the ‘Valentin’ bunker. Some noises remain noises – in other words, they do not give rise to imaginative associations. Other sounds hint at their origins – say, it sounds like the wind blowing, to give an example. Like a creaking tree in the winter, which creaks differently than in summer when it also has rustling leaves.  Like trickling sand or steel clashing on steel. It echoes when a long-forgotten falling droplet, recorded with the Record button and replayed by pushing Play, is recalled to memory and a contemporary droplet falls just before or just afterwards. Again and again it hammers and hammers and hammers. It echoes for those who know that Lucien Hirth worked on the roof of the bunker with the ‘marteau pneumatique’, the ‘jackhammer’.


‘Life has no rewind button’, said the media artist Nam June Paik. Lucien Hirth, who helped build the bunker with his own hands and watched it grow with his own eyes, died on 5 October 2008. Never again will he say, ‘It must never happen again.’ Never again will he cry, ‘Never again war!’ Who bears witness now, in the year 2023, to what he witnessed? Wind that blows, droplets that splatter, and we ourselves, by passing on what we know about how easily peace can be shattered, or as the French would say, ‘Cʼest la paix, mais elle est fragile’ – it is peace but it is fragile.

Site-specific photography?! 

Zwei Beobachtungen zum Werk von Annemarie Strümpfler • Arie Hartog


Keine Abbildung kann die Erfahrung vermitteln, die sich einstellt, wenn ein Mensch mit der Zeit etwas erkennt. Vor allem wenn er sich in einer Situation befindet, in der Schritt für Schritt Sichtbarkeit entsteht. Er sieht wortwörtlich immer mehr: In einem dunklen Umfeld schimmert Licht und langsam ergibt sich daraus ein identifizierbares Bild, Farbflecken erweisen sich als Gegenstände und aus einer tiefschwarzen Fläche wird eine räumliche Konkave. Dieses graduelle Aufscheinen ist typisch für die Arbeiten von Annemarie Strümpfler. Ihr Werk fordert langsames Wahrnehmen, eine Betrachtung, die weder sofort kategorisiert noch versucht, das Gesehene im Zusammenhang zu verstehen. Die vier Arbeiten in diesem Buch sind ortsbezogen, zielen auf konzentrierte Wahrnehmung und sind überraschend lowtech. Indem die Künstlerin dem Katalog ein Motto von James Turrell voranstellt, legt sie für alle Leser eine dreiteilige Spur: Licht als Material, Wahrnehmung als Medium und die Selbstwahrnehmung des Betrachters. Die vierte Spur, die sie mit dem großen Namen legt, ist die selbstbewusste Verortung ihrer Arbeiten in einem (kunsthistorischen) Zusammenhang.  


I


Digital manipulierte Fotos sind heute eine Selbstverständlichkeit. Die Bilderflut, die im letzten Jahrhundert angekündigt wurde, hat sich bewahrheitet und eine neue Qualität bekommen. Dabei hat sich vor allem die Verbindung zwischen Bild und Welt verändert. Günther Anders beschrieb das 1956 in der „Antiquiertheit des Menschen“ als die Bewegung von einer Welt, in der Bilder existierten, zu einer „Welt im Bild“ und wenn man seine Metapher digital weiterspinnt, müsste man wohl aus beiden Substantiven Mehrzahl bilden. Wir haben uns daran gewöhnt, nicht zu fragen, wie (oder warum) Fotos hergestellt werden. Sie umgeben uns und steuern Verhalten, genauso wie es die kulturkritischen Denker unterschiedlichster politischer Couleur vorhergesagt haben. Hinterfragt werden Fotos heute kaum, was sicher auch damit zu tun hat, dass die technischen und gesellschaftlichen Prozesse, die im Hintergrund ihres Entstehens ablaufen, wortwörtlich undurchschaubar geworden sind und die komplizierte Technik umgekehrt fast unbegrenzt verfügbar ist. 


Diese medienkritische Annäherung macht sofort deutlich, wie transparent die Verfahren sind, die Annemarie Strümpfler nutzt. Indem sie ortsbezogen fotografisch arbeitet, legt sie eine direkte Verbindung zur Welt, aus der ihre Bilder stammen. Sie entscheidet über die Bildausschnitte und legt dabei Bezüge zur Architektur, in der sie ihre Fotos ausstellt. Wie das Bild entsteht, wird nachvollziehbar und all diese Prozesse werden Teil des wahrnehmbaren Werks. Alle Parameter sind sichtbar. Damit verschiebt sich die Aufmerksamkeit von einzelnen Bildern zu dem Zusammenhang zwischen den an einem Ort entstandenen Werken, dem Umfeld und zum Licht als verbindenden Faktor. Oder besser, zum Licht wie es die Künstlerin einfängt. Sowohl die Wahl des Objektivs – ein Loch in einer Dose, in einem Mülleimer oder einem abgedunkelten Fenster –­  als auch der Einsatz von lichtempfindlichem Material, im fotografischen Mainstream beides oft unkommentierte Selbstverständlichkeiten, werden als ästhetische Variablen fassbar.


Als Strümpfler den Pavillon des Gerhard-Marcks-Hauses in Bremen in eine Camera Obscura verwandelte  und sich eine drei Meter breite Projektion auf der Rückwand aus einem kleinen Loch erklärte, entwickelte das schlichte Verfahren eine große Faszination. Nach einer gewissen Zeit im abgedunkelten Raum (notwendig, um sich den Lichtverhältnissen anzupassen), sah ein Betrachter die Straße neben dem Gebäude umgekehrt auf der Wand. Die Projektion verlief über eine Seitenwand, also schräg durch den Raum und sobald wahrgenommen wurde, wie sich das Bild in die vorhandene Architektur einfügte, wurde die Präzision des Eingriffs deutlich. Es war ein bestimmter Ausschnitt, der unter einem scharfen Winkel auf die Rückwand des Gebäudes projiziert wurde: Eine erkennbare räumliche Situation, vor allem durch die sich bewegenden Verkehrsteilnehmer auf der Straße, die zu einem flachen Bild wurde. Wenn draußen die Sonne schien, bekam das Bild auch Farbe, sonst blieb es auf eine typische Art und Weise unscharf und verschwommen. Dieses tendenziell flache Bild war die logische Konsequenz der Technik ohne Linse. Für jede Lochkamera gilt, dass die Schärfe abnimmt, desto größer das Loch ist, durch welches Licht scheint. Um auf eine fast drei Meter breite Fläche zu projizieren, ist relativ viel Licht und somit eine verhältnismäßig große Öffnung notwendig. Ohne Schärfe verliert das Bild einen Teil der Perspektive und damit löst es sich aus dem Raum des Betrachters. In unserer Kultur verweisen unscharfe Bilder immer auf Kontrollverlust. Hier markierten sie Präzision. 


Die Verbindung zwischen dem Raum des Betrachters und dem Raum des Kunstwerks ist eines der zentralen Aspekte der Kunst der Neuzeit. Sie geht auf die Linearperspektive als große Erfindung der Renaissance zurück. Mit dieser Bilderfindung wurde das Gemälde, das bis dahin einen anderen Ort markieren konnte, zu einem Fenster, das den realen mit dem Bildraum verbindet. Was im Bild zu sehen ist, ist auf den Standpunkt des Betrachters hin angeordnet. Maler des 17. Jahrhunderts verbanden das mit der Camera Obscura. Sie gab an, wo sich die Gegenstände (auf einer umgedrehten Fläche) befanden und die Perspektive ordnete das, indem sie Blickwinkel und Schärfe ins Bild brachte. Strümpfler ging in ihrer Arbeit „Pavillon = Kamera = Werk“ einen entscheidenden Schritt zurück und schuf eine Situation, in der mehrere Raumsysteme offensichtlich nebeneinander existierten. Der Betrachter im quadratischen Raum sah einen Blickwinkel, der nicht nur nicht die Fortsetzung seines Blicks war, sondern eindeutig direkt von draußen kam, aber haargenau auf die Proportionen des Innenraums ausgerichtet war. Die Wirklichkeit der verschachtelten Raumsysteme war nachprüfbar und das machte sie ungewöhnlich. Eine digitale Kamera, die eine Situation auf der Straße filmt und dann mit einem Beamer auf die Wand projiziert, hätte wie auch immer das gezeigte Bild betont, Strümpfler nutzte die alte Technik um auf die gesamte Situation hinzuweisen.


Die Lochkamera betonte die unterschiedlichen Lichtwerte der Objekte und nicht ihre Form. Im Kontrast zum riesigen Bild mit dem Blick auf die Straße fanden sich im Pavillon kleinere Projektionen mit größerer Bildschärfe, aber der träumerische Aspekt, der jedem Bild aus einer Camera Obscura eigen ist, war auch hier vorhanden. Im Raum entstanden Langzeitbelichtungen und diese wurden in einem zweiten Teil des Projekts ausgestellt, wobei die farbigen Flecke und Kontraste, die ein Betrachter im Raum wahrgenommen hatte, durch die Belichtungsdauer an Intensität gewannen, genauso wie sich die daraus entstandenen Fotos wieder mehr in die Konvention des Bildes als Fenster einordneten. Der grundsätzliche träumerische Aspekt blieb. Fotos ohne den Raum eines erkennbaren Ortes bleiben irgendwie ein sichtbares Mysterium.


II 


Eine andere Perspektive: „Site-specific photography“ klingt wie ein schlechter Kunsthistorikerwitz oder ein eher unwahrscheinliches Resultat einer postmodernen Phrasendreschmaschine, und doch beschreibt der Begriff genau Strümpflers Arbeitsweise. Die Idee des „site-specific“ entstand, als Künstler die Idee des autonomen Kunstwerks als abgeschlossene Einheit kritisierten. Gemälde oder Skulpturen, die an unterschiedlichen Orten ausgestellt werden, seien zur Ware degradiert und dagegen setzten die Künstler das „nur hier“. Eng damit verbunden, war ein neues Durchdenken der Rolle des Publikums, das sich an dem spezifischen Ort seiner Position bewusst wird und die Situation analysiert. Ein Werk existiere nicht ohne Betrachter. Dieser fing an, nicht nur das sichtbare, sondern auch die unsichtbaren Strukturen zu reflektieren und damit verschob sich das Interesse vom Kunstwerk zum Kontext. Spätere Künstler stellten ein Gleichgewicht zwischen beiden her. Wenn es ein Medium gibt, das die Idee der Verfügbarkeit ins Endlose getrieben hat, dann die Fotografie und so lässt sich auch hier eine Rückbesinnung auf Situationen beobachten. Strümpfler reduziert die notwendige Technik auf das Äußerste und schafft mit minimalen Eingriffen und mit dem vorhandenen Licht Bilder und (räumliche) Zusammenhänge. Ihre Fotos vertrauen darauf, dass ein Betrachter den Entstehungskontext und die für den Ort relevanten ästhetischen Entscheidungen versteht. 


Während die Situation in den begehbaren Kameras in Bremen und Krefeld (S. 38) bedeutete, dass ein Betrachter die Bilder, die er sah, direkt mit dem Umfeld in Verbindung bringen konnte, war die Arbeit in Dresden zeitversetzt. In einer sich verändernden Umgebung wurden Lochkameras von unterschiedlichem Format platziert. Bilder gab es hier nur, nachdem die Kameras abgebaut wurden. Damit fehlte in der Wahrnehmung der Fotos die unmittelbare Erfahrung des Ortes, aber auch hier geht es darum, die spezifische Situation zu reflektieren, in der mit Licht Bilder entstanden. Es sind keine handelsüblichen Kameras, mit denen gearbeitet wird, die man hinstellt und die dann „klick“ machen. Die Künstlerin lotete eine Lichtsituation aus und baute improvisierte Kameras, die sich in das Umfeld einfügen. Einzelne Bildeigenschaften, wie die angesprochene Unschärfe, die träumerische Atmosphäre und die Wirkung von Kontrasten auf lichtempfindlichem Papier weisen den kundigen Betrachter auf eine Lochkamera hin, aber Auswahl, Komposition und Belichtung zeigen eindeutig in Richtung der Künstlerin.


Jede Kunst braucht Technik. Die Frage ist, ob und wie sie sichtbar wird. Strümpfler hat eine Methode entwickelt, bei der das Fotografieren an sich in den Mittelpunkt rückt. Nicht als Handlung („klick“), sondern als Prozess, der betrachtet und nachvollzogen werden kann. Indem sie das Verfahren auf ihre nachvollziehbare rudimentäre Form reduziert, entsteht genau das, was es bei den digitalen Fotos schon lange nicht mehr gibt: Verwunderung über entstehende und entstandene Bilder. Die von Turrell im Motto angesprochene Wahrnehmung als Medium weist hier in die gleiche Richtung. Ein Medium ist der notwendige Träger, mit dem eine Botschaft (oder eine Darstellung) zwischen Sender und Empfänger transportiert wird. Indem postuliert wird, dass eine Aktivität des Betrachters als solche funktioniert, wird erstens – im Sinne des „site-specific“ behauptet, dass ein Kunstwerk ohne ihn nicht existiert. Zweitens kann, was von diesem Medium getragen wird, da es eine Aktivität betrifft, nicht unveränderlich sein: „Was sehe ich und wie und wo entsteht dieses Bild“ bedeutet dann aber auch, dass der Prozess der Selbstwahrnehmung irgendwann zu einem Abschluss kommt und das Medium verschwindet. So gedacht wird das Aufscheinen der Bilder durch ein allmähliches Weichen des Mediums gespiegelt. Und am Ende bleiben ­die Fotos und dieses Buch.

Site-specific photography?!

Two observations on the work of Annemarie Strümpfler • Arie Hartog


No picture can convey the human experience of discerning something gradually in time. Especially if the situation is one in which visibility occurs incrementally. The viewer literally sees more and more: in dark surroundings, light glimmers forth and an identifiable image slowly emerges; patches of colour coalesce into objects, and a deep-black plane becomes a three-dimensional concave. This gradual emergence is typical of the works of Annemarie Strümpfler. Her work demands slow perception, contemplation that neither immediately categorises nor seeks to impose sense and coherence on what is seen. The four works in this book are site-specific, are aimed at concentrated perception, and are surprisingly low-tech. In prefacing them with the epigraph by James Turrell, she lays a three-part trail for all readers: light as the material, perception as the medium, and the viewers’ awareness of their own perceptions. The fourth trail, which she lays with the famous name, is the self-confident location of her works within an overall (art-historical) context. 



Digitally manipulated photos are taken for granted today. The flood of images foretold in the last century has become a reality and acquired a new quality. What has changed above all is the connection between the image and the world. Günther Anders described it in 1956, in ‘The Obsolescence of Humankind’, as the progression from a world in which images existed to a ‘world in the image’, and if his metaphor is elaborated digitally, both substantives should probably be pluralised. We have grown accustomed not to ask how (or why) photos are produced. They surround us and influence behaviour, exactly as predicted by cultural-critical thinkers of the most diverse political hues. Photographs are barely questioned today, one reason almost certainly being that the technical and societal processes underlying their creation have become literally opaque, even though the complicated technology is almost boundlessly available.


It is immediately clear from this media-critical approach how transparent the techniques are that Annemarie Strümpfler uses. By making site-specific photography, she forges a direct link with the world from which her images originate. She decides on the fields of view, at the same time incorporating links to the architecture in which she exhibits her photographs. How the image comes into being is made comprehensible, and all these processes become part of the perceivable work. All parameters are visible. This shifts attention from individual images to the relationship between the works produced in one place and the wider surroundings, and with light as the connecting factor. Or more precisely, light as the artist captures it. Two mundane parameters that often go unremarked in the photographic mainstream, namely the choice of objective – a hole in a can, in a wheelie bin or a blacked-out window – and the use of light-sensitive material, both become palpable as aesthetic variables.


When Strümpfler transformed the Pavilion of the Gerhard-Marcks-Haus in Bremen into a camera obscura and a three-metre-wide projection on the rear wall revealed itself through a tiny aperture, the simple technique unfolded a great fascination. After spending a certain time in the darkened room (of necessity, to adjust to the ambient light level), viewers could see the street next to the building inverted on the wall. The projection passed across a side wall, i.e. diagonally through the space, and the moment they perceived how the image fitted into the existing architecture, the precision of the intervention was clear. It was a specific segment that was projected at an oblique angle onto the building’s rear wall: a recognisable spatial situation, mainly due to the moving traffic on the street, transmuted into a two-dimensional image. When the sun shone outside, the image temporarily acquired colour, but otherwise it remained typically indistinct and blurred. The image’s tendential flatness was the logical consequence of the lensless technique. For any pinhole camera, the rule is that the larger the hole through which light shines, the lower the definition of the image. For a projection onto a surface almost three metres wide, a relatively large amount of light is necessary, and hence a comparatively large aperture. Without definition the image loses part of its perspective, where-upon it disengages from the viewer’s space. In our culture, out-of-focus images always indicate loss of control. Here they signified precision.


The connection between the viewer’s space and the artwork’s space is one of the central aspects of art in the modern era. It goes back to linear perspective, the great invention of the Renaissance. With this artistic innovation the painting, which had hitherto signified a different place, became a window that connected real with pictorial space. What can be seen in the image is orientated to the viewer’s vantage point. Painters in the seventeenth century associated this with the camera obscura. It registered where objects were located (on an inverted plane), while perspective imposed order by incorporating view-ing angles and definition into the picture. In her work ‘Pavillon = Kamera = Werk | Pavilion = Camera = Work’, Strümpfler took a decisive step back and created a situation in which several spatial systems obviously coexisted side by side. Viewers in the square room saw a perspective that was not only the continuation of their view but clearly came directly from outside, yet was precisely tailored to the proportions of the interior space. The reality of the nested spatial systems could be verified, which made it unusual. Whereas a digital camera that filmed the situation on the street and then projected it onto the wall using an overhead projector would have emphasised the image displayed, Strümpfler used the old technique to direct attention to the situation as a whole.


The pinhole camera emphasised the objects’ different light values and not their form. In contrast to the gigantic image composed of the view onto the street, the Pavilion also housed smaller projections with greater image definition, but here again, the dreamlike aspect that is inherent to every image from a camera obscura was present. Inside the room, long-exposure images were created, and these were exhibited in the second phase of the project. The patches of colour and the contrasts that viewers in the room had perceived were lent additional intensity by the long exposure, and by the same token, the resultant photographs assimilated more closely to the convention of the image as window. The essential dream-like aspect remained. Photos absent the space of an identifiable location somehow remain a mystery in plain sight.


II


A different perspective: ‘site-specific photography’ might sound like an art-historian’s joke or the somewhat improb-able output of a post-modern phrase-generating machine, yet the concept exactly describes Strümpfler’s working method. The idea of the ‘site-specific’ came about when artists criticised the idea of the autonomous artwork as a self-contained entity. Believing that paintings or sculptures exhibited in different places were being degraded to goods, artists contested this with the tenet of ‘only here’. Another integral element was a new thinking-through of the role of the audience as it becomes aware of its position in a specific place and analyses the situation. An artwork had no existence without viewers, they claimed. Viewers in turn began to reflect not only on what was visible but also on invisible structures, whereupon interest shifted from the artwork to the context. Later artists created an equilibrium between the two. If there is any medium that has taken the idea of availability to infinite lengths, it is photography; and here, too, a renewed mindfulness of situations can be observed. Strümpfler utterly reduces the necessary technology and with minimal interventions, using the available light, creates images and (spatial) connections. Her photographs trust the viewer to understand the context in which they originated and the aesthetic decisions relevant to that place. 


Whereas the situation in the walk-in cameras in Bremen and Krefeld (p. 38) meant that viewers could connect the pictures they saw directly with the surroundings, the work in Dresden was time-delayed. Pinhole cameras of different formats were placed in a changing environment. Pictures only existed after the cameras had been re-moved. Hence, the direct experience of the place was missing in the perception of the photos, but the concern is still to reflect on the specific situation in which images were produced using light. This work is not done with standard off-the-shelf cameras which are put in position and go ‘click’. Rather, the artist fathomed out a light situation and built improvised cameras that blended into their surroundings. Particular image qualities, like the indistinctness mentioned, the dreamlike atmosphere and the effect of contrasts on light-sensitive paper, all indicate a pinhole camera to the knowledgeable viewer, but the selection, composition and exposures are clear pointers towards the artist.


All art needs technique. The question is whether it becomes visible, and if so, how? Strümpfler has developed a method in which photography itself takes centre stage. Not as an action (‘click’) but as a process, which can be considered and comprehended. She reduces the technique to its rudimentary form for comprehensibility, and what emerges is exactly what has long been missing in relation to digital photos: wonderment about images in the making and images created. Turrell’s proposition of perception as a medium in the epigraph points in the same direction. A medium is the necessary vehicle for transporting a message (or a picture) between sender and recipient. To postulate that an activity on the part of the viewer performs this function is firstly to claim – in keeping with the ‘site-specific’ – that an artwork does not exist without the viewer. Secondly, since the medium relies on an activity, what it conveys cannot be con-stant: a further implication of ‘what am I seeing, and how and where does this image originate’ is that the viewer’s perceptual awareness will cease at some point and the medium will disappear. To this way of thinking, the emergence of the images is mirrored by a gradual vanishing of the medium. And what finally remain are the photographs and this book.

DEAD ZONE
Alejandro Perdomo Daniels


Die Folgen der Industrialisierung sind seit Jahrzehnten evident. Sorgte der zunehmende Wohlstand in den kapitalistischen Ländern zunächst für einen euphorischen Glauben an den Effizienzgedanken und den mit ihm verbundenen Fortschritt, so machten sich zugleich die ökologischen Katastrophen, die mit dem kapitalistischen Wachstum unausweichlich einhergehen, bemerkbar: Die seit Langem festgestellte Klimaerwärmung wird immer deutlicher und die Umweltzerstörung lässt sich aus der täglichen Realität nicht ausklammern. Dass die Realität wiederum seit jeher einen grundlegenden Bezugspunkt für die Produktion von Kunst darstellt, gilt als eine unbestrittene Tatsache der Kultur. Es erweist sich somit als folgerichtig, dass sich die Kunstschaffenden der Gegenwart mit den Problemen ihrer Zeit beschäftigen. Dies tut Annemarie Strümpfler in der Arbeit Dead Zone aus dem Jahr 2018.


Den Begriff „Dead Zone“ entlehnt die Künstlerin bewusst aus dem Kontext, den sie thematisiert. Er stammt aus der ökologischen Forschung und bezieht sich auf ein konkretes Phänomen der Umweltverschmutzung und -zerstörung: die mit verheerenden Folgen gekoppelte Zustandsveränderung eines Gewässers durch Sauerstoffmangel. Dieses Phänomen steht im direkten Zusammenhang mit der Industrialisierung und der auch aus ihr resultierenden Klimaveränderung: Der Zufluss von Dünger und Gülle aus der Landwirtschaft und der industrialisierten Massentierhaltung in die Meeresgewässer führt zu einer unnatürlichen Erhöhung des Nährstoffgehalts bzw. Überdüngung, zudem schafft der Temperaturanstieg günstige Bedingungen für ein Hyperwachstum von Algen, Plankton und Bakterien. Diese Biomasse charakterisiert sich allerdings dadurch, dass sie keine Nahrung für Zooplankton und Fische bildet. Sie häuft sich folglich ungehindert an. Wenn diese Besiedler nach ihrem natürlichen Zyklus sterben, zersetzen sie sich vor Ort, wobei der bakterielle Abbau ihrer Biomasse den Sauerstoff im Wasser verbraucht und giftigen Schwefelwasserstoff freisetzt. Daraus resultiert ein Zustand akuten Sauerstoffmangels im betroffenen Lebensraum. Sinkt der Sauerstoffgehalt unter 2 Milligramm pro Liter, so wird von einer Todeszone gesprochen, einem lebensfeindlichen Bereich, der nicht nur Fische und größere Organismen, sondern auch bodenlebende wirbellose Tiere wie Würmer und Muscheln auslöscht. Das Ausmaß der ökologischen Zerstörung hängt von der Größe und der Beständigkeit des Areals ab.


Der Befund, dass zu den 400 bislang bekannten Todeszonen weltweit die Ostsee zählt und dass sie nicht nur die größte aller Todeszonen ist, sondern dass sie sich auch seit hundert Jahren immer weiter ausdehnt – von 5.000 Quadratmetern am Anfang des 20. Jahrhunderts auf 60.000 Quadratmetern im Jahr 2016 – schockiert die nordeuropäische Künstlerin. Das einheitliche Bild eines lebenspendenden Bereiches zerbricht in der Bewusstwerdung, dass die massive Vernichtung unter der sichtbaren glatten Meeresoberfläche leise und ununterbrochen vonstattengeht, ohne dass etwas Grundsätzliches dagegen getan werden kann: In der Ostsee-Todeszone leben heute nur anaerobe Bakterien. Diese Erkenntnis gestaltet sich als ein Antagonismus angesichts der Unerbittlichkeit eines Seins-Zustandes, der aufgrund seines Werdungsprozesses dadurch gekennzeichnet ist, ein fundamentaler Nicht-Seins-Zustand zu sein. In diesem Zustand der Zerstörung vergegenständlichen sich die Folgen der instrumentellen, auf Effizienz und Produktivitätssteigerung angelegten Denkweise der Moderne.


In der Erkenntnis dieser Tatsachenlage mit all ihrer ökologischen, epistemischen und kulturgeschichtlichen Implikationen entfaltet Annemarie Strümpfler das Bedürfnis einer ästhetischen Auseinandersetzung, die sie plastisch umsetzt. Die Frage nach der Erfahrbarkeit einer Kondition, deren Ausmaß zwar empirisch feststellbar, aber für den begrenzten Erfahrungshorizont des einzelnen Subjektes nur als Vorstellung greifbar ist, lässt die Künstlerin auf eine Abstraktion zurückgreifen und eine skulpturale Arbeit in Form eines Wandreliefs schaffen, die erst im Wissen um ihren Bezug auf die wissenschaftlich geschätzte Größe der Todeszone im Jahre 2016 Sinnhaftigkeit erlangt. Auf einer weißen Wand, an der sich eine konvexe, fein geschliffene Wölbung abhebt, bearbeitet die Künstlerin die stilisierte Form der Todeszone. Als Negativform in der Gipsmasse sorgfältig ausgehöhlt, bildet sie ein mehrere Zentimeter tiefes Loch, dessen konkave Oberfläche mit einem stark lichtabsorbierenden schwarzen Pigment bemalt ist. Durch das Kontrastspiel zwischen lichtabsorbierender Opazität und strahlender Helligkeit einerseits und zwischen Ebenheit und Tiefe andererseits schafft die Plastik eine optisch ambivalente Wirkung, die die Wahrnehmung des Rezipienten je nach Standpunkt so verunsichert, dass ihm eine unmittelbare Bestimmung der konstitutiven Beschaffenheit des Reliefs nicht möglich ist.


In dieser körperlich erfahrbaren Ambivalenz hinsichtlich der Beschaffenheit eines Seienden stiftet die Arbeit einen Sinnzusammenhang: Die Begegnung mit einer erfahrungsbedingten Inkongruenz kann die Indizien, die sie als Inkongruenz entlarven, nicht voraussetzen; so ist die Erkenntnis der Fakten, die die Verkennung ermöglichen, ein Bewusstwerdungsprozess, an dessen Ende eine unvorhergesehene Einsicht entsteht. Dieser Prozess stellt sich als eine private Angelegenheit dar, die sich jedoch mit einer über das Private hinausgehenden und mit Bedeutung versehenen Tatsache verbindet. Eben in dieser Verbindung schafft Annemarie Strümpfler einen Zusammenhang ästhetischer Sinnhaftigkeit, der imstande ist, durch einen situativen ästhetischen Prozess den begrenzten Erfahrungshorizont des einzelnen Rezipienten in die Erfahrung einer ungeahnten Bedeutung zu leiten. Eine Bedeutung, deren Tragweite die Gewissheit der Moderne mit ihrem Glauben an Effizienz und Fortschritt gründlich erschüttert.

DEAD ZONE
Alejandro Perdomo Daniels


The consequences of industrialisation have been in evidence for decades. Rising prosperity in capitalist countries initially inspired a euphoric faith in the notion of efficiency and the concomitant ideal of progress, but even at that time there were warning signs of the ecological catastrophes that inevitably go hand in hand with capitalist growth: now the long-registered warming of the climate is becoming ever more obvious, and environmental destruction is a part of everyday reality that cannot be ignored. Reality in turn has been a fundamental reference point for the production of art since time immemorial; that is an uncontested cultural fact. Hence it is only logical that contemporary artists will engage with the problems of the present day, as Annemarie Strümpfler does in the work Dead Zone from the year 2018.


The artist consciously borrows the term ‘dead zone’ from the context that provides her theme. It derives from environmental research and relates to a concrete phenomenon of environmental pollution and destruction: how oxygen depletion coupled with its devastating consequences affects the ecological state of a water body. 


It is a phenomenon that correlates directly with industrialisation and the ensuing process of climate change: the discharge of fertilisers and slurry from agriculture and industrialised mass livestock production into sea waters causes eutrophication, the elevation of water nutrient content to unnatural levels; added to which, temperature rise creates favourable conditions for hypergrowth of algae, plankton and bacteria. However, the characteristics of this biomass render it unsuitable as a food source for zooplankton and fish, so it just accumulates without restraint. When these colonisers die as their natural cycle ordains, they decay where they are, and the bacterial decomposition of their biomass consumes the oxygen in the water and releases toxic hydrogen sulphide. The result is a state of acute oxygen depletion in the affected habitat. Should oxygen content fall below 2 milligrams per litre, it is referred to as a dead zone, a place hostile to life, which not only obliterates fish and larger organisms but also bottom-dwelling invertebrates like worms and shellfish. The extent of the environmental destruction depends upon the size and persistence of the zone.


The finding that one of the world’s 400 currently known dead zones is the Baltic Sea, and it is not only the largest dead zone of all but has also been constantly expanding for a hundred years – from 5,000 square metres at the start of the twentieth century to 60,000 square metres in the year 2016 – shocks the Northern European artist. The coherent image of a life-nurturing biotope is shattered by the dawning awareness that a massive extermination of life is happening silently and relentlessly beneath the calm visible surface of the sea, and nothing effective can be done to halt it: the only life-forms in the Baltic Sea dead zone today are anaerobic bacteria. This discovery manifests as an antagonism in the face of the inexorability of a state of ‘being’ which, owing to the process it arose from, is a fundamental state of ‘non-being’. The consequences of modernity’s instrumental thinking, intent on heightening efficiency and productivity, are hypostasised in this state of destruction.


In the knowledge of this set of facts with all its ecological, epistemic and cultural-historical implications, Annemarie Strümpfler feels a growing need to tackle it aesthetically, and does so in the form of a three-dimensional work. Impelled by the question of how a condition can be experienced when its extent is so vast that, although it is empirically verifiable, it defies the individual subject’s limited horizon of experience and can only be grasped as an idea, the artist makes use of abstraction and creates a sculptural work in the form of a wall relief, a work that only becomes meaningful in the knowledge of its reference to the scientifically estimated size of the dead zone in the year 2016. On a white wall with a raised convex bulge that has been sanded perfectly smooth, the artist renders the stylised form of the dead zone. It is a cavity several centimetres deep, carefully gouged out from the plaster mass as a negative form, its concave surface then paint-ed with strongly light-absorbent black pigment. Through the play of contrasts between light-absorbing opacity and dazzling brightness, on the one hand, and between flatness and depth, on the other, the sculpture creates an optically ambivalent effect, which disconcerts the recipients’ perceptions so much depending on their standpoint that they are unable to discern the constitutive nature of the relief directly.


In this physiologically experienced ambivalence about the nature of a ‘being’ object, the work engenders a sense connection: the encounter with an experience-induced incongruence cannot be predicated on the evidence that exposes its incongruence;  thus, gaining knowledge of the facts that enable the misapprehension is a process of growing awareness, which culminates in an unanticipated insight. This process is seen to be a personal matter, albeit attached to a fact that goes beyond the personal and is imbued with meaning. Precisely in this attachment, Annemarie Strümpfler creates a relationship of aesthetic meaningfulness which has the power, by means of a situative aesthetic process, to lead the individual recipient’s limited horizon of experience towards something of unanticipated significance. A significance whose implications thoroughly shake the certainty of modernity and its faith in efficiency and progress.

Bilder einer Landschaft, 2021

Bunker ‚Valentin‘ - Bremen I‚ Atlantikwall‘  – Mur de l’Atlantique‘ - Bretagne - Pays de la Loire

Annemarie Strümpfler


...um zu verstehen...

ein Vorwort


Die unzähligen Spuren und Überreste des Atlantikwalls von Norwegen bis nach Spanien rmarkieren die Orte der Bunkeranlagen der deutschen Wehrmacht, die während der Besatzungszeit von 1940-1945 zur Verteidigung gegen eine alliierte Invasion errichtet wurden. 

Sie stehen für das NS-Regime und die Organisation Todt, die Hunderttausende zwangen, diese Bunkeranlagen unter schwersten Bedingungen zu bauen und sie verweisen gleichzeitig darauf, was nicht mehr ist. 

Mit dem Tod der meisten Zeitzeugen verblasst auch die Erinnerung an ihre Entstehung. 

Doch sind die Reste dieser Bunker in großer Zahl weiterhin da. Sie bleiben die sichtbaren Zeichen von unfassbarem Leid und Tod verursacht durch die deutsche NS-Diktatur und deren brutale, Menschen verachtende Kriegsführung.

Das Leugnen, Trivialisieren oder Vergessen dieses Vermächtnisses – wie es manche politische  Strömungen von deutscher Seite her praktizieren – stehen im Widerspruch zu der noch immer sichtbaren, die Landschaft prägenden Dominanz von Bunkern am Atlantikwall.


Ihre oft aggressiv – bedrohlich wirkende Präsenz einerseits und ihr langsames Verschwinden andererseits verbinden sich zu einer eigenartigen Ästhetik: irritierend fremdartige Gebilde, eingegliedert in die Landschaft, vereinnahmt von der Natur oder dem urbanen Raum,  integriert und Fremdkörper zugleich, genutzt gemäß den gesellschaftlichen und privaten Bedürfnissen. 

Alles im Wandel, ein nicht endender Prozess, der neue Landschaft kreiert.


Jedes Land und jede Gesellschaft hat eine spezifische Beziehung zur eigenen Vergangenheit und  entwickelt folglich eine eigene Erinnerungskultur, ein eigenes kollektives Gedenken.

So Deutschland, das Land der Täter, der Mitläufer, Verursacher unendlichen Leids, der wenigen, die Widerstand geleistet haben.

So Frankreich, von der Wehrmacht im 2.Weltkrieg besetzt, seiner Ressourcen durch die Besatzer beraubt und ausgebeutet, zur Kollaboration mit Hitler-Deutschland gezwungen, und doch auch das Land derer, die im Widerstand waren.


Gibt es unter diesen Vorzeichen von Verschwinden und Präsenz gleichermaßen, des Unterschieds  von Erinnerung und Gedenken in Täter- und Opfergesellschaften, der Mitläufer und Kollaborateure eine Möglichkeit des Austauschs von Erinnerung, die Möglichkeit des Dialogs über die Grenzen hinweg? 

Für den Diskurs braucht es einen Raum in beiden Kulturen, der eine kritische Aufarbeitung des historischen Geschehens ermöglicht.

Um zu verstehen, bedarf es der menschlichen Begegnung.


Dieses Fotobuch soll ein Beitrag sein, der nach  Unsichtbarem unter dem oberflächlich Sichtbaren sucht. Es ist Ausdruck für die Begegnung mit einer besonderen Landschaft, die nicht aufhört Fragen aufzuwerfen über das kollektive Erinnern.

Bedingt durch die große Anzahl und Vielfalt der verbleibenden Bunkerreste des Atlantikwalls, beschränkt sich die Auswahl der Fotoreihen auf eine Region: 

die Küstenlandschaft der Bretagne mit ihren U-Bootbunkern

Brest, Lorient, Saint Nazaire. 

Diese wiederum haben einen direkten Bezug zum U-Boot Bunker ‚Valentin’ in Farge-Rekum (Bremen) und seiner Geschichte. 


Ich danke all denen, die  bereit waren, mir in langen und zahlreichen Gesprächen offen ihre persönlichen Berichte preiszugeben, die mir ihre Kenntnisse zur Verfügung stellten und mich letztlich ermutigten.


M. Bedri, chargé du patrimoine, Brest

Thomas Corentin, Zeitzeuge, ehemals beschäftigt im Bunkerbau, Crozon

Aurélien und Clément Coquil, Musée de Mémoire 39/45, Plougonvelin

Peter Gaida, Historiker, Bordeaux

Gonzalez Foreal Henri, Bordeaux

Dennis-Pierre Merrien (pôle Développement et Attractavité de Lorient)

Jean Sala-Pala, président de MERE29, Brest

Christel Trouvé, wissenschaftliche Leitung Denkort Bunker Valentin, Bremen

und noch vielen anderen.

Ohne diese Unterstützung hätte ich nicht verstehen können...


Zum Fotobuch (pdf) >>>

I Images d’un paysage, 2021

Bunker ‚Valentin‘ - Bremen I‚ Atlantikwall‘ – Mur de l’Atlantique‘ - Bretagne - Pays de la Loire

Annemarie Strümpfler


...pour comprendre...

une préface


Les innombrables traces et vestiges du mur de l'Atlantique, de la Norvège à l'Espagne, représentent les sites des bunkers construits par la Wehrmacht allemande pour se défendre contre une invasion alliée pendant l'occupation de 1940 à 1945. Ils sont l’expression du régime nazi et  de l'organisation Todt qui ont forcé des centaines de milliers de personnes à construire ces bunkers dans les conditions les plus difficiles.

Ces vestiges du mur de l'Atlantique indiquent en même temps ce qui n'est plus. Avec la mort de la plupart des témoins de l’époque, le souvenir de leurs constructions s'estompe également. 

Cependant des vestiges de ces bunkers subsistent en grand nombre. Ils restent les signes visibles de l'inconcevable souffrance causée par la guerre brutale qui méprise les êtres humains. Le déni, la banalisation ou l'oubli de cet héritage historique - surtout par certains courants politiques du côté allemand – contrastent avec la dominance toujours ptrésente des bunkers du Mur de l'Atlantique.


Leur lente disparition d'une part, et leur présence encore  agressive et menaçante d'autre part, se combinent pour créer une esthétique particulière : des structures étrangement irritantes, intégrées dans le paysage, que se réapproprient  la nature ou l'espace urbain, intégrées et corps étranger à la fois, utilisées selon les besoins sociaux et privés. 

Tout évolue, un processus sans fin qui crée de nouveaux paysages.


Chaque pays, chaque société a un rapport particulier à son propre passé et développe par conséquent sa propre culture du souvenir, sa propre mémoire collective.

L'Allemagne, par exemple, le pays des bourreaux, des suiveurs, les responsables  de souffrances sans fin, des rares individus qui ont résisté.

La France, occupée par la Wehrmacht pendant la Seconde Guerre mondiale, privée de ses ressources par les occupants et exploitée, contrainte de collaborer avec l'Allemagne hitlérienne, et pourtant aussi le pays de ceux qui étaient dans la Résistance.


Dans ces conditions de présence  et de disparition à part égale , de différence entre souvenir et commémoration dans des sociétés de bourreaux et de victimes, de compagnons de route et de collaborateurs, existe-t-il une possibilité d'échange de mémoires, une possibilité de dialogue par-delà les frontières? 

Pour le discours, il faut un espace dans les deux cultures qui permette une réévaluation critique des événements historiques.

Pour comprendre, il faut des rencontres humaines.


Ce livre de photos se conçoit comme une contribution à la recherche de l'invisible sous le visible. Il exprime la rencontre avec un paysage particulier qui ne cesse de susciter des questions sur la mémoire collective.

En raison du grand nombre de bunkers subsistant du mur de l'Atlantique et de lleur diversité , les photos sélectionnées se limitent à une région : le paysage côtier de la Bretagne avec ses bunkers de sous-marins:

Brest, Lorient, Saint Nazaire. 

Ceux-ci sont à leur tour liés au bunker de sous-marin ‚Valentin’ 

à Farge-Rekum (Brême) et à son histoire. 


Je tiens à remercier tous ceux qui ont accepté de me confier ouvertement leurs témoignages au cours de longues et nombreuses conversations, qui ont mis leurs connaissances à ma disposition et qui m'ont finalement encouragée


M. Bedri, chargé du patrimoine, Brest

Thomas Corentin, témoin contemporain, anciennement employé dans la construction de bunkers, Crozon

Aurélien et Clément Coquil, Musée de Mémoire 39/45, Plougonvelin

Peter Gaida, historien, Bordeaux

Gonzalez Foreal Henri, Bordeaux

Dennis-Pierre Merrien (pôle Développement et Attractivité de Lorient)

Jean Sala-Pala, président de MERE29, Brest

Christel Trouvé, directrice scientifique Denkort Bunker Valentin, Brême

Et beaucoup d’autres.


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